Die Arbeitsbedingungen von Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz sind in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Der steigende administrative Aufwand und der Mangel an Fachkräften setzen das medizinische Personal unter hohen Druck. In diesem Kontext gewinnt das Arbeitszeitmodell «42 plus 4» zunehmend an Aufmerksamkeit.
Das Modell «42 + 4» sieht eine reguläre Wochenarbeitszeit von 42 Stunden im Sinne der Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung vor, ergänzt durch wöchentlich 4 Stunden strukturierte Weiterbildung. Mit dieser Massnahme soll die Weiterbildung gestärkt, das Einhalten der arbeitsgesetzlichen Vorgaben vereinfacht und eine höhere Arbeitszufriedenheit erreicht werden. Verschiedene Spitäler in der Schweiz haben bereits begonnen, mit einer reduzierten Sollarbeitszeit oder flexibleren Arbeitszeitmodellen für Ärztinnen und Ärzte zu experimentieren. Doch wie sehen die ersten Ergebnisse aus? Welche Vorteile und welche Herausforderungen bringt eine solche Umstellung mit sich? Und was bedeutet das für die Zukunft der Spitalplanung und Organisation? Darüber sprechen wir mit Dr. Philipp Rahm, Dienstplanberater des Verbands Schweizerischer Assistenzund Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) und leitender Arzt am Kantonsspital Baden. Als Experte für ärztliche Arbeitszeitmodelle kennt er sowohl die Sichtweise der Spitalleitungen als auch die Anliegen der jungen Ärzte und Ärztinnen aus der Praxis.
Das Arbeitszeitmodell «42 plus 4» ist in aller Munde. Wie funktioniert dieses?
Im Grundsatz geht es um ein Separieren der reinen Dienstleistungszeit zugunsten Spitals von der Weiterbildungszeit zugunsten der Assistenzärztinnen und -ärzte. Dies, damit nicht auf Kosten der strukturierten Weiterbildung, auf die Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung zur Facharztreife Anrecht haben, zu viel gearbeitet wird. Mit einer Sollarbeitszeit von beispielsweise 50 Stunden kommt es sehr schnell zu Verletzungen des Arbeitsgesetzes. Wenn hingegen konsequent 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung und vier Stunden strukturierte Weiterbildung geplant werden, bleibt Spielraum für Unvorhergesehenes. Das Lohnniveau entspricht seit der Unterstellung unter dem Arbeitsgesetz vor 20 Jahren ohnehin nur einer Dienstleistung von 42 Stunden. Dem sind sich viele nicht bewusst.
Welche Erfahrungen haben Spitäler gemacht, die dieses oder ähnliche Modelle eingeführt haben – insbesondere in Bezug auf Arbeitszufriedenheit und Patientensicherheit?
Die Ärztinnen und Ärzte wünschen sich tiefere Soll-Arbeitszeiten, eine gute Weiterbildung und Transparenz bezüglich der geleisteten Arbeitszeiten. Entsprechend werden alle Bemühungen eines Arbeitgebers in dieser Richtung als positiv wahrgenommen. Attraktive Anstellungsbedingungen dürften insbesondere bei jüngeren Ärztinnen und Ärzten zunehmend mitentscheidend sein, wo ein Arbeitsvertrag eingegangen wird. Bereits die erste Klinik, die das Modell implementierte (USZ, Intensivstation), berichtete von deutlich weniger Schwierigkeiten bei der Rekrutierung. Die Patientensicherheit dürfte indirekt profitieren, indem bewusst(er) in die Weiterbildung investiert wird und die Vorgaben des Arbeitsgesetzes einfacher einzuhalten sind. Letzteres, das Einhalten der arbeitsgesetzlichen Vorgaben, das ohnehin Pflicht ist, dürfte den grössten Einfluss auf die Patientensicherheit und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden haben.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung – sowohl organisatorisch als auch kulturell innerhalb der Spitalstrukturen?
Das im Modell vorgesehene Separieren der reinen Arbeits- von der Weiterbildungszeit ist technisch und organisatorisch nicht so einfach umsetzbar. Dies unter anderem, weil nicht überall Zeiten gestempelt oder einfach im Zeiterfassungssystem einzugeben sind. Es wäre wichtig, eine zeitgemässe, mobile, technische Erfassungsmöglichkeit zu entwickeln. Aufgrund der Probleme bei der separierten Zeiterfassung setzen die meisten Spitäler das Modell im Sinne einer «SollArbeitszeit von 46 Stunden inklusive 4 Stunden strukturierter Weiterbildung» um. Aus kultureller Sicht braucht es einen Sinneswandel: Die ärztliche Arbeitszeit ist wertvoll – ein Abbau von ineffizienten Prozessen und ein Optimieren bzw. Reduzieren der administrativen Tätigkeiten sollte konsequent angestrebt werden. Die Weiterbildung stellt dabei ein zentrales Element einer Anstellung von Assistenzärztinnen und -ärzten dar. Wenn wir genügend und gute Fachkräfte wollen, dann sollten wir darin investieren. Dies gilt insbesondere auch in den schneidenden Fachdisziplinen. Bei ihnen sehe ich das grösste Potenzial und eine grosse Chance durch das neue Modell. Nicht diejenigen werden die besseren, die länger im Spital verbleiben, sondern diejenigen, bei denen die Arbeit effizient erledigt und die Weiterbildung spezifisch gefördert wird. Sie werden mehr Reserven für Unvorhergesehenes haben.
Das Modell fokussiert sich auf Assistenzärztinnen und -ärzte. Mit der Reduktion der Arbeitszeit auf dieser Hierarchiestufe steigt auch der Druck, die Arbeitszeiten auf höheren Stufen zu reduzieren oder zu regeln. Welche Tendenzen beobachten Sie hierzu in den Spitälern und was sind Ihre Empfehlungen, um über alle Hierarchie-Ebenen faire Arbeitszeitmodelle zu erreichen?
In der Vergangenheit bewegten sich die vertraglichen Arbeitszeiten der Assistenz- und Oberarztebene in der Regel an den meisten Orten auf gleicher Höhe. Dies würde ich auch weiterhin empfehlen. Ich gehe davon aus, dass es viele nicht verstehen würden, wenn sie nach Erlangen der Facharztreife plötzlich mehr arbeiten müssten, zumal die Weiterbildungsanteile wegfallen und nur die Fortbildungspflicht hinzukommt, was sogar tiefere Soll-Arbeitszeiten rechtfertigen würde. Gerade auch im Hinblick auf die vielerorts bestehende Schwierigkeit, Oberarztstellen aufgrund fehlender Attraktivität zu besetzen, dürfte das Investieren in die Attraktivität aller Arztstufen sinnvoll sein. Auf Ebene des höheren Kaders ist zu erwähnen, dass bei ihnen in den allermeisten Fällen die Vorgaben des Arbeitsgesetzes ebenso einzuhalten wären – auch wenn dies meist anders gelebt wird.
Inwiefern profitieren Spitäler langfristig von einer reduzierten und gleichzeitig planbaren Arbeitszeit der Ärzteschaft?
Im aktuellen Arbeitnehmermarkt drängt sich ein Überdenken der bisherigen Anstellungsbedingungen schlicht auf. Vielleicht müsste man darum eher fragen, was die Spitäler verlieren würden, wenn die Attraktivität der Anstellungsbedingungen nicht erhöht werden kann. Meines Erachtens besteht die grösste Chance für die Spitäler darin, im Rahmen des Umstellens auf ein 42+4h-Modell die teilweise ineffizienten Prozesse und Arbeitsabläufe zu überdenken und zu optimieren. Ein aktives Gestalten dessen, was an Arbeitszeit anfällt. Dies im Hinblick auf ein gezieltes Einsetzen der Ressourcen. Zudem bewegt man sich mit 42 + 4 nicht immer an der Grenze des Arbeitsgesetzes, sondern hat eine Reserve.
Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung – etwa bei der Dienstplanung oder der Entlastung von administrativen Tätigkeiten?
Bei jedem Einsatz einer zusätzlichen digitalen Ressource sollte der gesamte Prozess berücksichtigt werden. Denn Digitalisierung reduziert nicht automatisch Arbeitszeit. Ebenso muss der Einsatz gezielt und bewusst erfolgen. Als Beispiel sei die automatische Spracherkennung erwähnt. Zweifelsohne können dadurch viel rascher Berichte geschrieben werden. Wenn dann aber alle Berichte doppelt so lange sind, relativiert sich die gewonnene Zeit, da dann auch mehr gegengelesen werden muss. Im Bereich der Dienstplanung sind einige Programme am Entstehen oder bereits auf dem Markt, die den konkreten Planungsaufwand verringern. Wenn die Mitarbeitenden partizipativ eingebunden werden und beispielsweise ihre Dienstwünsche selbst einpflegen können, kann dies zu einem Effizienzgewinn bei der 0Planung und zu einer höheren Zufriedenheit mit der Dienstplanung führen.